Da auch nach zutreffender Ansicht der Kammer durch Versäumnisurteil gegen die Klägerin hätte erkannt werden müssen, wäre der statthafte Rechtsbehelf des Einspruchs nach § 338 ZPO gegeben, mittels dessen nach § 342 ZPO der Prozess, soweit der Einspruch reicht, in die Lage zurückversetzt wird, in der er sich vor Eintritt der Versäumnis befand. Wird dagegen ein streitgemäßes Urteil verkündet, so ist nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung allerdings auch die Berufung das statthafte Rechtsmittel. Der Grundsatz der Meistbegünstigung führt aber nicht dazu, dass das Rechtsmittelgericht auf dem vom unteren Gericht eingeschlagenen falschen Weg weitergehen müsste, vielmehr hat es das Verfahren so weiter zu betreiben, wie dies im Falle einer formell richtigen Entscheidung durch die Vorinstanz und dem danach gegebenen Rechtsmittel geschehen wäre. Das Meistbegünstigungsprinzip will nur verhindern, dass eine Partei infolge der formfehlerhaften Entscheidung in ihren Rechtsmittelbefugnissen eingeschränkt wird, dagegen fordert es nicht die Perpetuierung des Formfehlers. Von daher sind zwingende Vorschriften des Berufungsverfahrens durchgängig zu beachten. Dies gilt auch für die Frage eines etwa verspäteten Vorbringens.
Das erstmalige und damit neue Vorbringen der Klägerin in der Sache ist von der Kammer zu berücksichtigen. Allerdings sind nach § 531 Abs. 2 ZPO neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zuzulassen. Hier wurde das in der Berufungsbegründungsschrift enthaltene Vorbringen jedoch infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht, weil das Amtsgericht die Instanz durch streitgemäßes Urteil beendet hat, anstatt durch Versäumnisurteil zu erkennen (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO). Es wäre der Berufungskammer auch nicht möglich gewesen, das erstinstanzliche Verfahren fortzusetzen und das Vorbringen der Klägerin in dem Berufungsverfahren als in erster Instanz verspätet gehalten zu behandeln. Zum einen läge in der Fortführung des Rechtsstreits hin zu einer streitbeendenden Entscheidung durch die Berufungskammer die Perpetuierung des Formfehlers. Zum anderen darf das im Rechtszug übergeordnete Gericht die Zurückweisung verspäteten Vorbringens nicht auf eine andere als die von der Vorinstanz angewandte Vorschrift stützen. Ein Wechsel der Präklusionsbegründung durch das Rechtsmittelgericht kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Erst recht muss es der Kammer versagt sein, erstmals die Präklusionsbestimmungen anzuwenden, wenn deren Voraussetzungen zwar in erster Instanz vorgelegen hätten, das Landgericht von ihnen jedoch keinen Gebrauch gemacht hat und im Berufungsverfahren nach §§ 525, 296 ZPO die Voraussetzungen für eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nicht gegeben sind.
Die Aufklärung des Sachverhalts erfordert nach Ansicht der Beklagten eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme, da das ausführliche Vorbringen der Klägerin jedenfalls zum Großteil bestritten und deshalb beweisbedürftig ist.
Soweit die Kammer der Auffassung sein sollte, die durchzuführende Beweisaufnahme sei umfangreich und aufwändig, kann es für den vorliegenden Fall entgegen OLG Stuttgart 19 U 141/12 (der Senat hat dort die Frage des Umfangs und des Aufwands der Beweisaufnahme schlicht nicht vertieft) nicht dahinstehen, ob der Kammer bei der vorliegenden Fallgestaltung das ihr nach der Bestimmung des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, wegen des Grundsatzes der Meistbegünstigung zusteht oder ob die Kammer gehalten ist, den Rechtsstreit an das Amtsgericht zurückzuverweisen, um entsprechend § 342 ZPO den Prozess durch die Berufung in die Lage, in der er sich vor Eintritt der Versäumnis befand, zurückzuversetzen.
Für den Berufungskläger ist es allerdings keine Frage, dass allein die Zurückverweisung zur Wiederherstellung der durch § 342 ZPO vorgesehenen prozessualen Lage in Frage kommt. § 538 ZPO enthält insoweit eine Regelungslücke, weil dort auf den Grundsatz der Meistbegünstigung keine Rücksicht genommen wird. Dieser gehört zum Kernbereich des Rechtsstaatsprinzips. Es darf zudem nicht sein, dass ein Rechtssuchender sehenden Auges ein "falsches" Rechtsmittel (Einspruch) einlegen muss, um zu derjenigen prozessualen Situation vorzudringen, die ein anderer Rechtssuchender auf einfachem Wege erreichen kann (Art.3 Abs. 1 GG).
Dr. Jochen Leibold, Rechtsanwalt
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